DuMont True Tales Schwarzes Wasser by Thomas Ulrich & Birgit Lutz

DuMont True Tales Schwarzes Wasser by Thomas Ulrich & Birgit Lutz

Autor:Thomas Ulrich & Birgit Lutz
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2017-04-12T16:00:00+00:00


200 Meter vom alten Zeltplatz entfernt hat er das Gefühl, dass sich die Eisplatte weniger bewegt.

Dort verharrt er. Als es heller wird, sieht er, dass 100 Meter neben ihm die Brandungswelle auf das Eis hochschwappt, und er denkt sich, dass er jetzt schon in einer gewaltigen Scheiße sitzt. Genau zu dem Zeitpunkt also, als es um ihn herum heller wird, kommt in seinem Inneren der dunkelste Moment überhaupt.

Ich habe gedacht, das überlebe ich jetzt nicht.

Als es vollends hell ist, beruhigt sich die Lage ein bisschen. Der Wind lässt nach und auch der Sturm in Thomas’ Innerem. Er geht zurück zum ehemaligen Camp. 100 Meter weit vom Zeltplatz entfernt flattert sein Zelt in Fetzen an dem großen, schweren Schlitten, so weit hat der Wind alles fortgezerrt. Thomas baut die beiden Schlitten zu einem Floß zusammen. Er bereitet alles dafür vor, dass er auch ohne Eis so lange wie möglich leben kann. Denn viel, das weiß er, darf nun nicht mehr passieren. Wie durch ein Wunder ist seine Scholle zwar gebrochen – sie besteht nun nur noch aus Einzelteilen, fünf auf fünf, zwanzig auf zwanzig Meter groß, die schwanken, wenn er über sie geht –, aber die Einzelteile sind noch nicht auseinandergetrieben. Sie bilden noch immer eine Fläche.

Der nachlassende Wind gibt Thomas eine Atempause. Er steht auf dieser gesplitterten Scholle, sein Material, das kostbare Material, in Monaten und Jahren vorbereitet, verteilt im nassen Eis, es sieht aus, als habe ein Riese seine Schlitten genommen und seine roten Materialsäcke ausgestreut wie Streusel auf einen Kuchen. Es sind seine Nahrungssäcke, mit denen er die Zeltlaschen beschwert hatte; es war eine gute Idee, gereicht hat es nicht. Er blickt um sich und er weiß jetzt, dass es nicht mehr darum geht, noch einmal neu zu starten. Es wird keinen Start mehr geben, keine Expedition, keinen Beweis einer Möglichkeit. Jetzt geht es nur noch ums Überleben.

Er geht auf den schwankenden Eisplatten umher und sammelt ein, was ihm noch von Nutzen sein kann. Er entdeckt, dass sich genau dort, wo sein Zelt gestanden hatte, der größte Riss geöffnet hat. Auf einer Scholle, die überall gleich aussah.

Ich war einfach im falschen Moment am falschen Ort.

Dann ruft er Hans an. Hans bespricht sich mit Victor.

Thomas wird informiert, dass die Rettungsflüge kommen werden. Sie werden ihn nicht ans Kap zurückbringen, sondern ausfliegen. Er kann nicht nach Kanada gehen, es fehlt ihm zu viel Material, und mittlerweile ist er auch psychisch nicht mehr so völlig im Gleichgewicht. Sie sagen ihm nicht, dass sie keine Ahnung haben, wann die Hubschrauber kommen werden. Victor hat noch nichts erreicht.

Thomas baut sich aus den Resten des Außenzelts einen Windschutz an die Schlitten. Er sucht nach trockenen Socken und findet keine, nimmt die Batteriebox, setzt sich darauf, den Kocher zwischen den Beinen. Er versucht, seine eisigen Füße zu wärmen und ein Paar Socken zu trocknen. So sitzt er da und wartet. Benzin auffüllen, die Benzinpumpe drücken – das sind jetzt die Tätigkeiten, die ihm noch bleiben.

Jahrelang wird sich Thomas fragen, ob er richtig gehandelt hat, und diese Frage wird zu einem immerwährenden Summen in seinem Hinterkopf.



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